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So weit von St. Pauli.

von Florian Naumann

Aus dem Hintergrund schleichen sie sich auf die Bühne, und dann sagt er’s, der große Hamburger, als hätte er gerade an der Tür geklingelt: “Wir sind’s, Die Sterne!”, und fängt an zu singen, “Wie ein Schwein” nämlich.

Keine Beleidigung an Frank Spilker, den Singenden, ist das, sondern ein neuer Song der Sterne. Und doch so eine versteckte Beleidigung: “Braun-schwarz-weiß gescheckt suhlen wir uns Schlamm”, “wie ein Schwein!” erklärt Spilker, über weit hallende Gitarren, ein geräumiger, kühler Song ist das. Und das ausverkaufte 59:1, hinten in der alten Einkaufspassage an der Sonnenstraße, wo tagsüber Flugreisen und vedische Massagen verkauft werden, nimmt es freundlich aber weitgehend regungslos hin.

Ausverkauftes “59er”, das bedeutet vielleicht 300 Zuschauer – nicht viel für eine Band, die schon mal den großen, holzvertäfelten Funksaal 1 des Bayerischen Rundfunks in halsbrecherischen Taumel versetzt hat. Und in der Vorschau hätte man angesichts des unerwarteten Clubgig-Vergnüngens schon mit einem extatisch bierflaschenschüttelnden, schweißnebelwändeverursachenden Mob rechnen können – München bleibt aber ruhig. Auch als Spilker später leicht entschuldigend meint “dafür haben wir auch ein paar alte Songs mitgebracht”, erst “bis 9 bist du ok” spielt, dann einen Textzettel hervorkramt, Swinging Safari anstimmt und trotzdem spontan eine Strophe vergisst.

Ob es am nun schon späten Dienstagabend liegt, der Müdigkeit des Arbeitstages, oder der süddeutschen Coolness – oder der Fiesheit der hamburgischen Texte, die sich so schön spürbar an der Stadt draußen reibt. “Wir suhlen uns im Schlamm” heißt es ja schon im ersten Refrain, das ist ein bisschen Vorwurf, und ein bisschen Eingeständnis, und ein bisschen gemein achselzuckender Trotzdemspaß – genauso wie kurz vor der ersten Zugabe, als alle Anwesenden die Parole kennen dürften, und es trotzdem nur schüchtern aus der vorletzten Reihe mittönt. “Du kannst ficken wen du willst – was. willst. du. denn?”, und: “Fickt das System!”. Ein schöner Gedanke auch, dass der gleiche Mann ruft, der vor 15 Jahren verpixelt und in Schlaghosen aus einem Low Budget-Video rief. Und heute eben nur schüchterne Antwort bekommt. Weil auch nach 15 Jahren der Ruf noch so gut im Halse stecken bleibt, was ein guter Grund wäre – oder wegen den Händen, die das Publikum in den Hosentaschen trägt?

Rasierklingenscharfe Gedanken und ein bisschen Nihilismus, so gemein ist diese Musik, “deine Augen im Spiegel sind genauso frustriert, als hättest du dich politisch engagiert”. Die Songs der neuen EP verzichten auf Gitarren, wild genug, und schlagen immer noch die gleichen Kerben: “Sie können nicht tanzen/Sie müssen den ganzen Tag funktionieren. Brüder und Schwestern/Ich will ja nicht lästern/Ich kann es verstehen/und will es nicht sehen. Wir müssen das ändern/Erklärt’s euren Kindern/Ich änder den Schritt/Ich mache nicht mit” (und tatsächlich könnten einige Zuschauer das schon ihren Kindern erklären, doch schon so viel Geschichte hat die Band), heißt es in “Neblige Lichter“, und erklärt den ganzen Abend – 20 Jahre nach Gründung der Band, und natürlich machen sie immer noch selber mit und verkaufen ihre Platten. Wie auch die, die vor Jahrzehnten riefen “fickt das System” – wie gemein, wie realistisch. Wie wach, wie ergeben. Und alle im gleichen Boot, immerhin.

Am Ende singen doch noch alle, nachdem das lang angekündigte Schlagzeug-Solo in der Zugabe zuvor irgendwie ausfiel, “da hilft nichts auf der Welt, wenn dir St. Pauli auf den Geist fällt”, Frank Spilker allein mit der Gitarre, und diese 300 Isar-, Max- und Ludwigsvorstädter, 900 Kilometer vom nächsten Hafen entfernt. Singen trotzdem, so zwischen Stachus und Isartor. Und morgen sehen wir uns alle im System.

Was könnten wir auch anderes tun.

Titelbild: Frank Spilker in Würzburg 2007. Von björnstar unter creative commons-Lizenz.

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