fallen/legen blog

Fällt der Gau aus, bleiben wir zuhaus.

von Florian Naumann

Am Abend der Bundestagswahl, zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale, stand Münchens Oberbürgermeister Christian Ude in der Abenddämmerung seiner Stadt und war nicht gar so niedergestimmt wie seine Parteigenossen. Umringt von einer Traube von Schreibern mit Notizzetteln und Mikrofonen, sagte er, frei übersetzt, natürlich sehe es nun düster für die SPD aus – aber Hoffnung gebe es: “Wenn schwarz-gelb seine bitteren Pillen ausgibt, wird immerhin eine Repolitisierung einsetzen” – Repolitisierung; Kitt für die bröckelnde SPD, und vor allem ein Weckruf für die Bürger der ganzen Nation.

Das war keine seltene Vermutung, so zwischen Hoffen und Bangen. Auch außerhalb der Parteilager: Öfter war in meinem eigentlich gemäßigt alternativen Umfeld zu hören, “wenn es soweit kommt”, “dann müssen wir eben demonstrieren” – der Satz vielleicht sogar mit einem “endlich” versehen. Eher eine Hoffnung für eine Generation, die entweder vor lauter erzählten globalisierten und ökonomischen Zwängen oder aus scheinbar mangelnder Expertise keine Hoffnung auf eine eigene Meinung mehr hatte. Oder angesichts eher ergebnislos verpufften aber einigermaßen wütenden Protesten gegen Bildungsreformen und Online-Spionage keine Hoffnung mehr auf Einfluss dieser Meinung. Am Wahlabend zirkelte dann des alten Distelmeyer Video zu “Wohin mit dem Hass?” durch die Facebook-Linkspalten, clever zum schwarz-gelben Abend lanciert. Was für ein Aufbruch. Klein, aber immerhin.

Drei Wochen später ist nicht mehr viel übrig von der Polarisierung, der Politisierung. Vielleicht ist sie auch noch nicht eingetreten. Aber ein paar Wochen in die Koalitionsverhandlungen hinein scheint es: Die Pillen werden nicht bitter genug, um eine politische Vision, oder auch nur einen Protest anzufachen. Krankenversicherung zulasten der Angestellten, immerhin ein Aufreger. Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke – ja, doch, bitter, aber vielleicht auch nur realistisch? Ein Neubau wäre ein Affront gewesen. In Richtung Bürgerrechte schlägt sich die FDP gar wacker, sympathischer als der alte Koloss SPD. Die Union wackelt an Hartz IV, nun da die SPD verschwunden ist. Und an Westerwelles außenministerliches Radebrechen wird man sich gewöhnt haben. Irgendwann. So sieht es wohl aus.

Da steht ein Konglomerat aus Volksparteien, Lobby, Sachzwängen und “Sachzwängen”, verhindert das Schlimmste und arbeitet in Detailarbeit, gedankenvergessen oder bewusst, weiter an der Funktionalisierung des Einzelnen. Alles nicht heftig genug, um in plötzlich aufgeweckter Abgrenzung einmal ein “oder ganz anders!” zu überlegen. – Eine entscheidende Frage wäre: Ist es denn tatsächlich das (von den schneller “verwertbares Material” schaffenden Bologna-Reformen bis zu Liberalisierung des Arbeitsmarktes), was uns die Umstände abverlangen – schließlich ist es nun offiziell dies, was alle Parteien in gleicher Weise tun? Und sind wir “Demokraten” nur da, um das Schlimmste zu verhindern, wenn die Volkspartei unglücklicherweise als FDP-Mäßiger ausfällt? Oder stumpfen wir auf diese Weise ab, unterdrücken den Willen, und gehen irgendwann als klebriger Treibstoff der Maschinerie in die Luft, statt gleich “Stopp!” zu sagen? Jürgen Habermas würde das Eine sagen, die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe das Andere.

Und unter dem Strich steht diese Frage hier: Ist es Zeit ein Ziel zu konstruieren, wenn es schon sonst niemand für uns tut; notfalls gegen den Zwang der Sachzwänge (mit und ohne Anführungszeichen), und wieder im Spiel mitzumischen – oder der einzige Weg der Komplexität der modernen Welt zu begegnen, als stille Bereitschaftspolizei der Straße zu fungieren, und solange den kleinen Schritten zuzusehen? Und: Bekommen wir, die illusionslose Generation, die Lebenslaufoptimierer, in dieser Frage überhaupt noch eine Antwort hin?

Titelfoto: Phillipe Leroyer, französische Schülerdemonstration im Jahr 2008. Mehr Fotos hier. (verwendet unter creative commons-Lizenz.)

5 Kommentare!

  1. Mario Wimmer Am 19. October 2009 um 17:52 Uhr.

    Wenn ich den Text über Mouffe lese habe ich nicht den Eindruck, dass für sie Konsens oder die grundsätzliche Suche nach einem solchen problematisch ist.

    Problematisch ist vielmehr der Konsens darüber sowieso an der Spitze einer positivistischen Kausalkette zu stehen und deshalb aus gegebenen (unpolitischen weil unverhandelbaren) Sachzwängen eindimensional ebenso gegebene (und! unpolitische weil unverhandelbare) Sachlösungen abzuleiten. Ein Konsens der eine irgendwie geartete Pluralität von Lösungen und Meinungen verneint und die Reflexion und Diskussion sowohl über das eigene Handeln als auch das anderer Akteure (seien es Al-Quaida Terroristen oder Eliten in aufsteigenden asiatischen Staaten) als überflüssig erscheinen lässt. Das Politische an sich erscheint unter diesem Vorzeichen obsolet, Lösungen sind das Ergebnis technokratischer Expertengremien. Das Dilemma das sich aus dieser eindimensionalen Sichtweise ergibt ist, dass Opposition zu diesen Früchten positivistischer Hochkultur automatisch mit Feindschaft gleich gesetzt werden muss.

    Und genau deshalb ist der einzige Weg die Anerkennung der Pluralität von Positionen, Möglichkeiten und damit auch Lösungen. Und in Konsequenz davon die Repolitisierung der Steuerungsprozesse unserer Gesellschaft. Demokratische Politik bedeutet das Aushandeln eines Kompromisses aus verschiedenen Aktionsmöglichkeiten und -präferenzen. Es geht also gerade nicht um das errichten von Feind/Freund Schemata, sondern um die Anerkennung einer zu verhandelnden Pluralität von Möglichkeiten.

  2. Florian Naumann Am 19. October 2009 um 20:18 Uhr.

    …ja, und wir stehen nun eben genau an diesem Punkt, an dem just wir uns sehr, sehr schwer tun werden, eine Meinung zu postulieren, die von dem volksparteiübergreifenden, scheinbar “positivistisch nötigen”, Konsens abweicht. Grade solange sowohl rot-grün, als auch schwarz-rot, als auch schwarz-gelb letzten Endes das gleiche tun. Insofern die Hoffnung, dass letztere sich wenigstens ein bisschen vom alternativlosen Mainstream entfernt hätten – alleine schon, um eine Diskussion über Alternativen auch in einer anderen Richtung anzustoßen.

  3. Mario Wimmer Am 19. October 2009 um 23:17 Uhr.

    Ich halte es eher für unwahrscheinlich, dass Schwarz/Gelb kurzfristig einen oder mehrere solcher Negativimpulse setzen wird. Die Politik unter Frau Merkel zeichnet sich ja gerade durch ihre gefühlte(!) richtungs- und harmlosigkeit aus. Sie vermeidet nach Möglichkeit die Politisierung ihrer Entscheidungen und beruft sich grundsätzlich auf Sachzwänge und das Gemeinwohl, dadurch bietet sie natürlich kaum Ansatzpunkte für einen politischen Diskurs. Entkommen werden wir diesem Diskurs trotzdem nicht, es dauert halt nur länger bis der Topf überkocht und möglicherweise knallt es heftiger.

    Bis dahin klappert halt von Zeit zu Zeit der Deckel: http://www.youtube.com/watch?v=B4Q8eJJ81R4 .

  4. Florian Naumann Am 19. October 2009 um 23:43 Uhr.

    ja. treffende merkelanalyse. aber ob’s nun der treibstoff in der maschinerie, oder der brei im topf ist… – so ganz sicher bin ich mir nicht, dass das tatsächlich passiert. dagegen spricht die empirie der letzten 30, vielleicht sogar 40 jahre, das in der rückschau eher kümmerliche ergebnis des letzten überkochens, und am ende vor allem der zustand der generation bachelor, der der sachzwang so tief ins gehirn gesickert ist, dass sie ihr ganzes leben nach dem “sachzwang” arbeitsmarkttauglichkeit ausrichtet… wie _dieser_ topf überkochen soll ist mir noch nicht klar. so das überkochen nicht in der ablösung von schwarz-gelb durch jamaika besteht.

  5. Mario Wimmer Am 20. October 2009 um 00:27 Uhr.

    Und eben dieser Versuch perfekter Anpassung hat subversives Potential, denn was soll ein System mehr delegitimieren als wenn es sogar seine Lieblingskinder mit Füßen tritt? Das könnte dann auch bei den Anpassungsfähigsten zum Hinterfragen des Systems führen…